EVIL – Jack Ketchum

Wenn Stephen King einen Schriftsteller als „furchteinflößendsten Autor Amerikas“ betitelt, dessen bekanntestem Werk höchstpersönlich ein Vorwort spendiert und die Geschichte beginnt mit „Ihr glaubt, ihr wisst, was Schmerz ist?“ – welches Buch wäre eine bessere Wahl in der Kategorie „Buch mit 5-Sterne-Prognose“ für die Facebook Lesechallenge Juni-Dezember 2020 als Jack Ketchum’s „Evil“?

 

Originaltitel: „The Girl Next Door“

Erscheinungsjahr: 1989

Verlag: Heyne Hardcore (5. Auflage; 2005)

Seitenzahl: 334

Reihe: –

 

 

 

Inhalt

Ein amerikanischer Vorort  in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts: Wir begleiten den 12-jährigen David und die Nachbarskinder seiner Straße, werden Beobachter ihres kindlichen Alltags. Als nebenan Meg und Susie, die ihre Eltern bei einem Autounfall verloren haben, bei Familie Chandler einziehen, wird ziemlich schnell klar, dass die Kleinstadtidylle trügt. Ihre Pflegemutter Ruth sucht nach einem Sündenbock und wird schnell fündig. David wird mit unvorstellbaren Grausamkeiten konfrontiert und steckt in einem Wechselbad der Emotionen – inmitten von Faszination, Verlangen, Scham und Angst.

Meine Gedanken

Da ich mit „Hardcore“ von der ersten bis zur letzten Seite gerechnet (und mir deshalb auch ein wenig Sorgen gemacht) hatte, war ich vom Einstieg angenehm überrascht, wie behutsam uns Jack Ketchum mit dem kindlichen Kennenlernen zwischen David und Meg in die Geschichte hinein lockt. Mit friedlicher Kleinstadtidylle in trauter Nachbarschaft sowie teilweise etwas verrückten, aber im Grunde harmlos normalen Kinderfiguren, ihren altersgemäßen Spielen und Gesprächsthemen wiegt er uns in Sicherheit. Dass es bei Chandlers nicht mit rechten Dingen zugeht, merkt man zunächst nur ganz unterschwellig und schiebt die Gegebenheiten auf die damalige Zeit – wir befinden uns schließlich in den 1950ern. Ganz langsam braut sich zwischen Ruth Chandler und Meg etwas zusammen und ab einem bestimmten Punkt (den vermutlich jeder für sich anders definieren wird) denkt man sich „Ok, DAS ist jetzt aber nicht mehr normal“.

Normal ist dann ab diesem Zeitpunkt gar nichts mehr – eigentlich ist es sogar ziemlich krank, brutal und unerbittlich. Dennoch – und auch das hat mich positiv überrascht – hatte ich das Gefühl, dass Jack Ketchum den schmalen Grat zwischen „grausam“ und „ekelhaft“ sehr gut erwischt. Für meinen Geschmack hört er in besonders heiklen Szenen punktgenau an der Stelle auf zu erzählen, an der er uns die Grausamkeiten so beschrieben hat, dass wir sie mitfühlen und mitleiden können, jedoch bevor die Beschreibungen ins überflüssig Ekelhafte abdriften.

Ich mochte die ganz unterschiedlich gezeichneten Kinderfiguren, deren Verwandlung im Laufe des Buches und die Beschreibung des emotionalen Konflikts, in dem sich David befindet, sehr gerne. Als Leser schwankt man zwischen Verständnis und Unverständnis und fühlt nicht nur mit dem eigentlichen Opfer mit. Unterstützend wirkt die Erzählweise aus der Ich-Perspektive des erwachsenen Davids, der auf die vergangenen Geschehnisse zurückblickt.

Die Geschichte ist extrem spannend, flüssig geschrieben und mit vielen Dialogen versetzt, sodass man regelrecht durch die Seiten rast – absolutes 5-Sterne-Potential. Warum dann der Punktabzug?! Ich liebe Stephen King, er hat auch einen tollen Text über Jack Ketchum und sein Werk geschrieben, aber ich frage mich wirklich, wer die Idee hatte, diesen hier als Vorwort zu benutzen. So wenig im Klappentext verraten wird, im Vorwort wird dem Leser die komplette Story – gefühlt wirklich ALLES von Anfang bis Ende – bereits vorweggenommen. Ich bin froh, dass mir den Tipp bereits vorher jemand gegeben hat und ich gebe ihn gerne an dieser Stelle an euch weiter: Das Vorwort auf keinen Fall VOR der Geschichte lesen!

Fazit

Jack Ketchum hat es geschafft, mit einem absoluten „Pageturner“ eine unbeschwerte Vorstadtidylle zu einem Ort des Grauens zu verwandeln – mit allen menschlichen Abgründen, die man sich vorstellen (oder auch nicht vorstellen) kann. Sicher nichts für Zartbesaitete, dennoch aber auch kein sinnloses Gemetzel.

Eine Frage an das Buch: Stimmt es, dass Jack Ketchum’s „Evil“ auf einer wahren Gegebenheit beruht?

Der Roman beruht tatsächlich auf einem realen Fall, nämlich der Folterung der sechzehnjährigen Sylvia Likens durch ihre Pflegemutter Gertrude Baniszewski und deren Kinder im Jahre 1965. Dennoch ist „Evil“ nicht als klassischer „True Crime Fall“ zu sehen. Einige Details sind zwar wahrheitsgetreu nacherzählt worden und auch das Ende deckt sich in einigen Punkten, die Rahmenhandlung rund um Meg und David sowie viele Einzelszenen sind jedoch erfunden und dienen einer fiktiven Aufarbeitung des Falls.

Tipp

Wer (am besten nach der Lektüre) mehr über den echten Fall „Sylvia Likens“ erfahren möchte, dem kann ich das True Crime Video von „WhatPadiLoves“ sehr ans Herz legen.

 

 

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