Als ich für die SuB-Abbau-Schnitzeljagd bei Facebook meine größte SuB-Leiche identifizieren und endlich „abarbeiten“ sollte, ist mir „Die geheimen Jahre“ in die Hände gefallen. Gleichzeitig habe ich mich damit etwas aus meiner Komfortzone heraus bewegt, da historische Romane nicht wirklich zu meinen bevorzugten Genres gehören. Stand dieser Roman deshalb so lange unbeachtet herum? Oder lag es vielmehr am (mich als Kunstbanause wenig ansprechenden) Cover, welches eine düstere und gleichzeitig „verschwommene“ Geschichte vermuten lässt?
Originaltitel: „The Secret Years“
Erscheinungsjahr: 1994
Verlag: Piper Verlag (7. Auflage; 2009)
Seitenzahl: 679
Reihe: –
Inhalt
Ostengland, kurz vor dem ersten Weltkrieg: Die früh zur Waise gewordene Thomasine und ihr bester Freund Daniel verleben ihre Jugend in den „Fens“, einem rauen, stets Überflutungen ausgesetzten Marschland. Sie freunden sich mit dem Geschwisterpaar Nicholas und Lally Blythe an, deren Familie ein Anwesen hoch über dem Dorf thronend besitzt und dort ein privilegiertes Leben führt. Lady Blythe ist diese Freundschaft über die Standesgrenzen hinaus ein Dorn im Auge und sie setzt ihren Einfluss ein, um Thomasine und Daniel aus dem Dorf zu vertreiben. Die Freunde verlieren sich aus den Augen, der Krieg beginnt und Nicholas und Daniel ziehen an die Front, während Thomasine eine Karriere als Tänzerin anstrebt. Nach dem Krieg kreuzen sich die Wege der vier immer wieder in Paris, London und den Fenlands – doch die Gegensätze zwischen ihren Welten sind präsent wie nie zuvor und auch die Heimkehrer sind nicht mehr dieselben…
Meine Gedanken
Schon auf den ersten Seiten (tatsächlich eigentlich schon im Klappentext) kann man die Klischee-Schublade erahnen, in welche „Die geheimen Jahre“ einzuordnen ist: Junge aus gutem Hause verliebt sich in mittelständisches Mädchen, seine Mutter sieht den Ruf der Familie gefährdet und vereitelt die Beziehung. Junge trifft Mädchen wieder, sie heiraten trotz aller Widrigkeiten und stehen den gleichen Problemen gegenüber wie in ihrer Jugend (und noch einigen mehr).
Judith Lennox hat aus ihrer Geschichte, die in einer schwierigen Zeit spielt und einige (für damals und teilweise auch heute noch) brisante Themen anspricht, leichter verdauliche Kost gemacht. Das muss nicht schlecht sein, fand ich persönlich allerdings etwas schade und war mir für über 600 Seiten zu wenig tiefgründig. Ich wäre gerne tiefer in das damalige Geschehen dieser ereignisreichen Kriegs- und Nachkriegszeit eingetaucht. Mit Ausnahme der belastenden Erinnerungen und psychischen Traumata von Nicholas und Daniel erfährt man kaum etwas über die Auswirkungen der Ereignisse auf das Leben der Protagonisten.
Die Sprache ist eher beschreibend und wenig bildhaft, sowohl was die Umgebung angeht, als auch die Charaktere. Dies führt dazu, dass man weder in das Setting richtig eintauchen kann (und mit den ostenglischen Fenlands sowie London und Paris hat Judith Lennox eigentlich wunderschöne Schauplätze gewählt), noch sich emotional mit den Figuren verbunden sieht. Man findet sich beim Lesen immer eher in der Rolle des außenstehenden Beobachters wieder.
Die Figuren sind relativ flach gezeichnet und obwohl Thomasine im Klappentext als „temperamentvoll“ bezeichnet wird, lässt ihr tatsächliches Handeln wenig von dieser Charaktereigenschaft erkennen. Judith Lennox versucht offensichtlich, sie als „unerschütterliche Power-Frau der 20er Jahre“ darzustellen, was sie in vielen Situationen aber leider nicht ist. Alle Charaktere fallen immer wieder in eine Melancholie, die das Buch düster und stellenweise anstrengend macht. Mein Lieblingscharakter war Nicholas‘ Mutter Lady Blythe, die – zwar klischeehaft dargestellt, aber dennoch eine gewisse Geradlinigkeit in ihrem Handeln und ihrer Gemütsverfassung aufweisend – versessen darauf ist, Stand und Ruf zu wahren, und nicht davor zurückscheut, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
Fazit
Alles in allem „plätschert“ die Geschichte gemächlich vor sich hin und mag Leser/innen, die geschichtentechnisch gerne in England und in Adelshäusern unterwegs sind, die sich in den 1920er Jahren wohlfühlen und die gerne etwas aus dieser Zeit lesen möchten, ohne zu tief in die Nachwehen des ersten Weltkriegs eintauchen zu müssen, durchaus Freude bereiten. Kurz gesagt: Man bekommt, was der Klappentext verspricht – nicht mehr und nicht weniger.
Eine Frage an das Buch: Wie sehen die „Fenlands“ in East Anglia heute aus, wie werden sie genutzt?
Weniger aus den Beschreibungen im Buch heraus als vielmehr durch weiterführende Recherche im Anschluss habe ich die ostenglischen Fenlands durchaus als potentielles Reiseziel (vielleicht mit dem Microcamper?) für mich entdeckt. Weite, spärlich besiedelte Moorwiesen, durchsetzt von kleinen Fließgewässern, Gräben und Deichen bilden eine idyllische, karge Landschaft. Auf 40.000 Quadratkilometern befinden sich nur wenige kleine „Insel-Besiedlungen“, darunter Ely, in dessen Nähe sich auch das Anwesen der Blythes im Roman befindet.
Die „Fens“ liegen nur knapp über dem Meeresspiegel und sind daher seit jeher überflutungsgefährdet. Zahlreiche Pioniere – angefangen bei den Römern – haben versucht, das Marschland zu entwässern. Erst im 19. Jahrhundert gelang es mittels dampfbetriebener Pumpen, die die Arbeit der Windmühlen übernahmen, dem Wasser Herr zu werden, sodass die Flächen als Weide- und Ackerland genutzt werden konnten.
Heute helfen Dieselmotoren beim Entwässern, dennoch ist die Gefahr von Überflutungen nach wie vor nicht komplett gebannt. Nichtdestotrotz sind die Fens eine der ertragreichsten Agrarregionen Englands, vor allem in Bezug auf Weizen, Kartoffeln, Blumen, Obst und Gemüse. Einige Torfabschnitte sind erhalten geblieben – zwei davon Naturschutzgebiete mit seltenen Pflanzen- und Insektenarten.