DIE GALGENFRIST – Bernard Cornwell

„Besuche einmal im Jahr einen Ort, den du noch nicht kennst.“ Dieses Zitat des Dalai Lama gilt übrigens auch für Bücher: Hin und wieder sollte man seine Lese-Komfortzone verlassen und ein ganz neues (Sub-)Genre für sich entdecken. In diesem Fall habe ich mich an einen historischen Krimi gewagt und eines der wenigen Stand alones von Bernard Cornwell erwischt. Bekannt geworden ist der englische Autor durch seine (wirklich ellenlange) Buchreihe um Richard Sharpe, einem britischen Soldaten während der Napoleonischen Kriege. Auch in der „Galgenfrist“ spielen die Nachwirkungen dieses Krieges eine nicht unwesentliche Rolle.

 

Originaltitel: „Gallows Thief“

Verlag: Ullstein Verlag (4. Auflage; 2010)

Erscheinungsjahr: 2001

Seitenzahl: 344

Reihe: –

 

 

 

Inhalt

Wir befinden uns im London des Jahres 1817 – das „Galgengeschäft“ boomt. Nicht selten finden ebenso Unschuldige ihren qualvollen Tod am Strang. Auch der Porträtmaler Charles Corday sitzt in der Todeszelle für einen Mord, den er nach eigenen Beteuerungen nicht begangen hat. Der ehemalige Soldat Rider Sandman – pleite bis auf die Knochen – wird dazu engagiert, die Schuld des Verurteilten hieb- und stichfest zu beweisen. Dass Sandman jedoch an die Unschuld des Malers glaubt und stattdessen nach dem wahren Täter sucht, stößt dem ein oder anderen Mitglied der höchsten Gesellschaftskreise sauer auf…

Meine Gedanken

Der Aufbau der Geschichte um den zum Tod am Strang verurteilten Charles Corday ist gewöhnungsbedürftig und meiner Meinung nach nicht optimal gelöst. Im Prolog befinden wir uns mitten in einer Hinrichtungsszene, was den Leser sofort ins Geschehen reißt. Anschließend lernen wir den Protagonisten Rider Sandman und seinen Auftrag kennen und die Spannung flacht ab. Die Ermittlungstätigkeit schreitet eher schleppend voran, die einzelnen Schritte sind relativ vorhersehbar und halten wenig Überraschungen bereit. Am Ende geht der Spannungsbogen wieder steil nach oben und Cornwell ist damit ein runder Abschluss geglückt, der die Ereignisse vom Anfang des Buches sehr gelungen wieder aufgreift.

Die Figuren sind sympathisch, wenn auch teilweise etwas klischeehaft dargestellt. Sandman ist ein jähzorniger Typ, der sich manchmal schwer unter Kontrolle halten kann. Er schwankt emotional zwischen Erleichterung und Trauer darüber, dass die Kriege gegen Napoleon ein Ende gefunden haben. Die zahlreichen Bezüge auf seine Erfahrungen während der Schlachten haben eigentlich nicht direkt mit der Geschichte zu tun und schweben gefühlt etwas abgekoppelt im Raum. Sandmans Angebetete Eleanor ist intelligent und frech und versucht, ihren eigenen Kopf durchzusetzen, vor allem gegen ihre Mutter, die – ganz Klischee in historischen Romanen – keine Liebe zwischen zwei Menschen mit Standesunterschieden duldet.

Nicht störend, nur etwas verwirrend ist der vor allem in den Dialogen verwendete „Sprachstil-Mischmasch„. Einerseits liest sich der Text sehr modern (zu modern für einen historischen Roman?) unter Verwendung von Wörtern wie „Schwuchtel“ oder „Titten“, andererseits wirken Ausdrücke wie „Beau“ oder „Geck“ altertümlich und bilden einen starken Kontrast dazu.

Allgegenwärtig wie auch in der heutigen Zeit scheint – falls wir in diesem Punkt von historischer Korrektheit ausgehen können – bereits zur damaligen Zeit die Diskussion um die Sinnhaftigkeit der Todesstrafe zu sein. Wir sehen uns Befürwortern und Gegnern konfrontiert sowie Menschen, die eine Zurschaustellung von Hinrichtungen am Galgen als „notwendiges Übel“ hinnehmen, das als Abschreckung dienen und die Kriminalität gering halten soll. Es war sehr spannend, ein so aktuelles Thema im Kontext des 19. Jahrhunderts aufgearbeitet zu lesen.

Da historische Romane nicht mein allerliebstes Genre sind, kann ich dementsprechend wenig mit englischen Adelstiteln, den damaligen Währungseinheiten sowie verschiedenen geschichtlichen Ereignissen wie z.B. dem genauen Hergang der Schlacht von Waterloo anfangen. Es ist absolut nicht zwingend notwendig für das Verständnis der Handlung, aber sicherlich für die Unterhaltung förderlich, wenn man sich etwas in der britischen Geschichte des 19. Jahrhunderts auskennt.

Fazit

Ein leichter, gemütlich zu schmökernder Krimi mit einigen denkwürdigen historischen Elementen und Einblicken in die Rechtssprechung und -auslegung im 19. Jahrhundert.

 

Eine Frage an das Buch: Was zeichnet(e) die Drury Lane in London aus?

Als Rider Sandman realisiert, dass er aufgrund der dubiosen Machenschaften seines Vaters kaum mehr einen Cent in der Tasche hat, quartiert er sich arglos in einem Gasthaus in der Londoner „Drury Lane“ ein. Im Buch werden die Gründe, warum er grundsätzlich abschätzige Blicke erntet, wenn er sein vorübergehendes Domizil erwähnt, nicht ganz klar. Diese Straße im Stadtteil Covent Garden bildete im 18. und 19. Jahrhundert eines der schlimmsten Slums der ganzen Stadt. Zahlreiche Pubs lockten dubioses Publikum an, Prostitution und Hahnenkämpfe waren an der Tagesordnung.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Drury Lane geräumt und von Grund auf saniert. Heute spricht man in Zusammenhang mit dieser Gegend hauptsächlich von zwei bekannten Theatern – dem Theatre Royal und dem Gillian Lynne Theatre.

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